Die Universität ist die letzte Verteidigungslinie: Aleksandra Inić-Canada über Studentenproteste und akademische Solidarität
- GP Solidarnost

- 30. Juni
- 4 Min. Lesezeit
1. Wie beurteilen Sie als Professor an einer renommierten europäischen Universität die aktuellen Studentenproteste in Serbien? Verfolgen Sie die Entwicklungen?
Ja, ich verfolge alles sehr aufmerksam und aus verschiedenen Perspektiven. Diese Proteste sind nicht nur eine Reaktion auf eine Tragödie, sondern Ausdruck eines aufgestauten Gefühls der Hilflosigkeit und jahrzehntelanger Ungerechtigkeit. Es geht um die Rebellion einer Generation, der systematisch ihre Zukunft geraubt wurde. Diese jungen Menschen wissen, dass sie ohne Loyalität gegenüber der Regierungspartei keine Chance auf einen Job, eine Karriere oder ein würdevolles Leben haben. Es überrascht mich nicht, dass sie auf die Straße gegangen sind. Im Gegenteil, ich bin überrascht, dass es nicht schon viel früher geschehen ist.
2. Wie wichtig ist die Solidarität der Professoren mit den Studierenden im Kampf für demokratische Prinzipien und Meinungsfreiheit, insbesondere im repressiven politischen Kontext Serbiens?
In einem Kontext, in dem Druck, Zensur und Angst zum Alltag gehören, ist die Solidarität der Professorinnen und Professoren keine Frage der Sympathie, sondern Ausdruck persönlicher und beruflicher Integrität. Seit Jahrzehnten beruht das System in Serbien auf einer zum Schweigen gebrachten und entrechteten akademischen Gemeinschaft. Und das ist kein Zufall. Erinnern wir uns an Šešeljs Universitätsgesetz und seine Folgen. Professorinnen und Professoren, Forschende und Lehrende wurden jahrelang systematisch gedemütigt – finanziell, symbolisch und institutionell. Sie wurden ihrer Positionen enthoben, aus dem öffentlichen Raum verdrängt und zu administrativen Vollstreckern des Willens politisch ernannter, oft inkompetenter Manager gemacht.
Heute bricht dieses Schweigen aus allen Nähten. Die Universität ist mehr als eine Bildungseinrichtung – sie ist die letzte Verteidigungslinie gesellschaftlicher Autonomie. Fällt die Universität, so fällt auch die Idee, dass Wissen, kritisches Denken und Meinungsfreiheit unabhängig vom politischen Willen existieren können.
Ich war besonders beeindruckt vom Streik der Lehrenden in Serbien und ihrem Mut, in Solidarität mit Studierenden und Bürgern unmissverständlich zu sagen: „So kann es nicht weitergehen.“ Sie verteidigen nicht nur ihre Gehälter, sondern ihren Beruf, die Integrität der Schule und das grundlegende Recht jedes Kindes auf Bildung in einem System, das nicht ideologisch unterwürfig ist.
Heute sind es die Studierenden, die uns an die Grundwerte erinnern – sie sind zur Stimme der Vernunft und des Widerstands geworden. Die Professorinnen und Professoren haben die Pflicht, Verantwortung und das Privileg, ihnen beizustehen.
3. In Serbien haben wir Beispiele von Professorinnen und Professoren gesehen, die Studierende unterstützt haben, aber auch solche, die sich zurückgehalten haben. Welche soziale Verantwortung tragen Universitätsprofessoren Ihrer Meinung nach in solchen Momenten?
Neutralität gibt es in diesen Situationen nicht. Wir alle wissen, wie das System funktioniert: Parteirekrutierung, zusammengebrochene Institutionen, verschwimmende Grenzen zwischen politischer Macht und Universitätshierarchie. Eine Professorin oder ein Professor, die/der „abseits steht“, unterstützt faktisch den Status quo. Unsere Aufgabe ist es nicht nur, den Stoff zu vermitteln, sondern die Prinzipien zu verteidigen, die diesem Wissen Bedeutung verleihen. Schweigen bedeutet Mittäterschaft.
4. Wie reagieren Studierende und die akademische Gemeinschaft in Österreich auf politischen Druck? Gibt es Schutzmechanismen, die Serbien als Vorbild dienen könnten?
Österreich verfügt über starke Mechanismen zum Schutz der akademischen Autonomie, doch auch hier war der Kampf nicht einfach. Es war notwendig, für die Unabhängigkeit der Universitäten, soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung sowie für die Rechte der Studierenden, die nicht zur Elite gehören, zu kämpfen. Kein Recht entsteht von selbst – hinter jedem steht der Kampf von Menschen.
Als Vorbild für Serbien kann ein Modell institutionalisierter Solidarität dienen: Studierendenvertretungen, Lehrerverbände und Professorengremien, die sich nicht scheuen, öffentlich Stellung zu beziehen. Dadurch entsteht eine Infrastruktur des Widerstands. Serbien verfügt formal über die meisten dieser Mechanismen, doch ohne Transparenz und konsequente Anwendung bleiben sie wirkungslos.
5. Glauben Sie, dass die internationale akademische Gemeinschaft Studierende in Serbien unterstützen kann oder sollte? Wie könnte diese Unterstützung aussehen?
Nicht nur kann – sondern muss. Die akademische Gemeinschaft ist global vernetzt. Wenn Studierende in Belgrad, Novi Sad oder Niš gegen das Regime aufbegehren, das ihre Zukunft zerstört, ist es nicht nur ihr Kampf. Unterstützung kann symbolisch sein – durch öffentliche Briefe und Bekanntmachungen (z. B. ein Unterstützungsschreiben für serbische Studierende und Professoren) –, aber auch konkret: die Vergabe von Gaststipendien an verfolgte Studierende, wissenschaftliche Zusammenarbeit mit unter Druck stehenden Professoren, Medienpräsenz und gemeinsame Foren, Publikationen und Projekte.
Das Problem ist, dass solche Unterstützung meist von Einzelpersonen kommt und nicht das Ergebnis einer organisierten institutionellen Reaktion ist. Institutionelle Trägheit bleibt ein zentrales Hindernis.
6. Als Mitglied der Bürgerbewegung „Solidarität“: Was sehen Sie als nächsten Schritt, um die akademische Gemeinschaft, die Bürger und die politischen Akteure, die sich Veränderungen in Serbien wünschen, miteinander zu vernetzen?
Es ist längst überfällig, dass all jene, die Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit, Freiheit und das Gemeinwohl teilen, zusammenkommen. Unabhängig davon, ob dies über eine gemeinsame Plattform oder durch eigene Vorschläge geschieht, ist es entscheidend, eine gemeinsame politische Vision klar und ehrlich zu formulieren.
Die akademische Gemeinschaft sollte ihr Wissen einbringen, die Bürger ihren Mut und ihre Erfahrung, und die politischen Akteure außerhalb des Regimes müssen Reife und Kooperationsbereitschaft zeigen. Sie müssen nicht nur einander zuhören, sondern auch den Stimmen derer, die protestieren – auf den Straßen, vor der Universität, in den Hörsälen.
Ich glaube, wir können eine politische Front aufbauen, die nicht nur Unzufriedenheit mit dem bestehenden Regime zum Ausdruck bringt, sondern eine konkrete Vision einer gerechteren Gesellschaft vertritt. Die heutige Situation ist deutlich besser als vor dem 1. November, und Veränderungen beginnen, wie schon so oft zuvor, genau so: unter den Studierenden, auf der Straße.
Aleksandra Inić-Kanada, Mitglied der UO GP Solidarnost, schloss 1996 ihr Studium der Biochemie an der Universität Belgrad ab und begann im Anschluss ihre Tätigkeit am Immunologischen Forschungszentrum „Branislav Janković“ mit dem Schwerpunkt auf der Erforschung der angeborenen Immunität und Autoimmunerkrankungen. Sie besitzt einen Master-Abschluss in Immunchemie und promovierte in Immunologie am Institut für Biochemie der Chemischen Fakultät der Universität Belgrad. Weitere Erfahrung in den Bereichen Immunologie und Vakzinologie sammelte sie am „Torlak“-Institut.
Nach ihrem Umzug nach Österreich setzte sie ihre Postdoktorandenausbildung an der Medizinischen Universität Wien fort und konzentrierte sich dabei auf Chlamydieninfektionen und die Entwicklung von Impfstoffen. Von 2014 bis 2018 war sie stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des Zentrums für Augenentzündungen und -infektionen. Nach ihrer Habilitation im Bereich Immunologie und Vakzinologie im Jahr 2019 erhielt sie eine Festanstellung an der Medizinischen Universität Wien, wo sie verschiedene Module in den Bereichen Infektionskrankheiten, Tropenmedizin, Vakzinologie und Immunologie lehrt. Derzeit leitet sie eine Forschungsgruppe, die sich mit der Pathogenese von Chlamydieninfektionen, der Entwicklung neuer Impfstrategien und der Erforschung der Rolle der Schleimhautimmunität beim Schutz vor bakteriellen Krankheitserregern befasst.



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